Kolumne: Über Charaktere die uns Charakter verleihen



Mut, Ordnung, Fleiß, Hilfsbereitschaft, Respekt, Vertrauen, Liebe, Ehrlichkeit, Loyalität, Gerechtigkeit, Höflichkeit, Verlässlichkeit, Empathie, Unabhängigkeit, Erfolg, Disziplin…
 
Als ich 12 Jahre alt war, las ich zum ersten Mal "Das Tagebuch der Anne Frank", das im Bücherregal meiner Mama stand. Ich bin mit Geschichte aufgewachsen und so inhalierte ich förmlich Bücher mit historischen Hintergründen. Mit Anne Frank fand ich eine Protagonistin aus dem wahren Leben, die ein tragisches Schicksal ereilte, mich aber unglaublich faszinierte. Ihre Tagebuch-Einträge waren voller Lebensmut und Hoffnung, sie zeigte in ihnen so viel Stärke und Empathie. Sie inspirierte mich und wurde bereits schon in meinen jungen Jahren zu einem Vorbild. Und ich begann selbst mit dem Tagebuch-Schreiben.

Noch im selben Jahr las ich "New Orleans" von Alexandra Ripley, ein Südstaaten-Epos. Die junge Mary MacAllister begab sich im hitzigen New Orleans auf die Suche nach ihrer Vergangenheit. Ich erlebte mit ihr zusammen Höhen und Tiefen und sah ihr zu, wie sie erwachsen wurde. Wie sie an Stärke gewann und sich gegenüber der harten Männerwelt durchsetzte. Sie strotzte vor Selbstbewusstsein - und ich beneidete sie dafür. Sie ließ mich wachsen.

Neben der romantypischen Lektüre, las ich Mangas. Bereits seit 1992 verfolgte ich aufmerksam die Geschichten von "Sailor Moon" und kaufte mir jeden einzelnen Band. Auch heute noch denke ich gern an diese zurück - denn sie vermitteln mir Harmonie. Dabei ging es nicht mal um die "Macht der Mondnebel" oder "Liebe flieg und sieg"-Parolen. Es ging um etwas tiefgreifenderes: Ich lernte für mich, was Freundschaft bedeutete. Ich lernte über das Geben und Nehmen, Lachen und Weinen, Vertrauen und Verzeihen. Die Grundlage meiner heutigen Erwartungen an Freundschaften.

Mit jedem Buch, das ich seit meiner frühesten Kindheit las, wurde ich ein Stück zu dem Menschen, der ich heute bin. Ich traf die verschiedensten Charaktere: Magier, Hexen, Schurken, Seemänner, Zirkusartisten, Offiziere, Polizisten, Detektive, Buchhändler, Schriftsteller, Außerirdische, Floristen, Buchblogger, Vampire, Werwölfe, Diebe, Kinder, Erwachsene, Mädchen, Jungen, Männer und Frauen. Die Liste ist beliebig fortzusetzen und alle haben eines gemeinsam: sie ließen mich wachsen. Jeder einzelne Protagonist, ob gut oder böse, vertrat ganz eigene Werte und Normen, die meinen Horizont auf zwischenmenschlicher Ebene enorm erweiterten. Sie zeigten mir ihre Welt und ich nahm jedes Mal einen Teil davon in meine eigene Welt mit. 

Lässt sich also sagen, dass Charaktere eines Buches die eigene Persönlichkeit beeinflussen? Ich denke ja, zumindest aus eigenen Erfahrungen heraus. Differenzierte Wertevorstellungen prägen den Charakter und das soziale Handeln eines Menschen. Die Protagonisten eines Buches repräsentieren sehr klare Vorstellungen von Werten jeglicher Art und wir erleben sie mit ihnen. Wir fühlen uns in die jeweilige Rolle hinein, stehen mit ihnen Seite an Seite und kämpfen den Kampf, den es auszutragen gibt. Ihr Mut verleiht uns Mut, ihre Stärken und Schwächen werden zu unseren. Sie lassen uns manchmal vor dem Abgrund stehen, schubsen uns in unbekannte Tiefen und lassen uns zweifeln. Sie zeigen uns Freundschaft und Liebe, verleihen uns Kraft und schenken uns Hoffnung. Sie verleihen uns Charakter.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen